Christine Busch: Das Recht, nach der Wahrheit zu suchen

1524 begannen im süddeutschen Raum Aufstände gegen die Ausbeutung der Bauern, angeführt von Männern, die sich auf Martin Luther und seine Theologie beriefen. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“: diese Erkenntnis der Freiheit des Glaubens weckte in den Bauern vor allem den Wunsch nach Gerechtigkeit und persönlicher Freiheit. Sie forderten ein konkretes Reformprogramm, wie es z.B. 1525 in den Memminger Zwölf Artikeln ausgerufen und mit 25.000 Exemplaren im ganzen Land verbreitet wurde, darunter die Forderung nach freier Pfarrerwahl, nach Abschaffung der Leibeigenschaft, des Zehnten und der Frondienste, und nach Freigabe von Jagd und Fischerei.

Martin Luther zeigte sich zunächst offen gegenüber den Forderungen der Bauern. Er kritisierte den Hochmut der Herrschenden, die sich nicht bewegen ließen, in einer Ermahnung zum Frieden. Er dachte nicht im heutigen Verständnis pazifistisch, sondern wollte vermeiden, dass seine Lehre zum Vehikel würde für einen gewaltsamen Umsturz. Luther kam es darauf an, dass die evangelische Erneuerung auf Unterricht und Verkündigung gründete, niemals jedoch auf Gewalt und Zwang. Gottes Wort selbst werde sich ohne Gewalt gegen das päpstliche Regiment durchsetzen; die Reform von Kirche und Welt werde allein durch das Wort Christi geschehen. Dies hatte er bereits im Dezember 1522 in dem Traktat „Eine treue Vermahnung an alle Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung“ dargelegt, dessen Anlass eine überstürzte, mit sozialen Unruhen verbundene Umsetzung der reformatorischen Lehre durch Karlstadt in Wittenberg war.

Im Frühjahr 1525 eskalierte die Lage. Bauern begannen Klöster und Kirchen zu plündern; Bergarbeiter und Arme aus den Städten schlossen sich ihnen an. Ihr Anführer wurde Thomas Müntzer, anfangs ein glühender Anhänger Luthers, der sich zum eschatologischen Schwärmer entwickelt hatte und das tausendjährige Gottesreich der Offenbarung auf Erden mit Gewalt umsetzen wollte. Für ihn war Luther „das sanftlebende Fleisch zu Wittenberg“. Luther hingegen sah in Müntzers endzeitlicher Theologie einen Angriff gegen seine Lehre und eine teuflische Herausforderung der göttlichen Ordnung. Er forderte den sächsischen Landesherrn auf, gegen das Chaos zu kämpfen. In seiner Schrift „Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“ ergriff er in drastischer Weise Partei für die Obrigkeit und für die Anwendung von Gewalt. Er sah sich in der Pflicht, für den Gehorsam der Untertanen zu sorgen. Gott habe der Obrigkeit nicht einen Fuchsschwanz, sondern ein Schwert gegeben, das sie gegen das Böse einsetzen müsse. Während im irdischen Reich Gottes Zorn regiert, ist das geistliche Reich gefüllt mit Gottes Barmherzigkeit und Gnade.

Thomas Müntzer führte die Bauern unter dem Symbol des Regenbogens am 14. Mai 1525 in die Schlacht von Frankenhausen. Die Aufständischen hatten keine Chance; 6.000 starben; und Müntzer wurde hingerichtet. Der Bauernkrieg kostete insgesamt etwa 70.000 Menschen das Leben. Luther ist sich sicher: „Wer den Müntzer gesehen hat, der mag sagen, er habe den Teufel leibhaftig gesehen in seinem höchsten Grimm“.

Beide, Luther wie Müntzer, verstanden sich als Besitzer der göttlichen Wahrheit. Sie waren nicht mehr imstande zum sachlichen Disput, sondern definierten Gut und Böse in der je eigenen Perspektive und nach dem jeweiligen Verständnis der Schrift. Sie verschärften die Lage mit öffentlichen Stellungnahmen, und sie bekämpften sich mit Hass und tödlichen Worten. Es war ihnen nicht möglich zu denken, dass unterschiedliche Glaubensvorstellungen nebeneinander existieren könnten. Der Kampf um die Wahrheit war erbarmungslos.

Er betraf auch die Täufer, die sich auf die Glaubenstaufe beriefen und die Trennung von Staat und Kirche forderten.

30 Jahre später brachte der Augsburger Religionsfriede eine Vereinbarung zwischen römisch-katholischer und lutherischer Konfession zustande. Doch „cuius regio, eius religio“ betraf weder die historischen Friedenskirchen noch das Judentum. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurden lediglich die Reformierten gleichgestellt. Mennoniten, Baptisten, Methodisten galten bis in das 20. Jahrhundert hinein als Sondergemeinschaften.

Heute gestalten wir Ökumene und üben den Dialog der Religionen. Wir wissen: Welchen Platz die anderen Religionen in Gottes Plan mit der Welt haben, entscheiden nicht wir. Toleranz verstehen wir als einen zentralen Wert: die eigene Position kennen, offen sein für die Positionen anderer, das Gespräch suchen, Grenzen erkennen, Intoleranz abwehren. Jede und jeder hat das Recht, nach der Wahrheit zu suchen. Sich darin einig zu sein ist eine Voraussetzung für Frieden. Umso wichtiger ist es, mit Vertreterinnen und Vertretern anderen Religionen darüber zu sprechen, wie wir Frieden verstehen und wie wir gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit eintreten wollen.

Christine Busch

Vorsitzende der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF)