Joel Driedger: Die Schönheit des Gesetzes

„Häh?!“, wird sich jetzt der ein oder andere LeserIn denken, „es soll bei dieser Text-Reihe doch um die Reformation gehen. Was um alles in der Welt hatte die Reformation mit dem Gesetz zu tun? Es ging doch um  die Gnade!“ Ja genau, die Gnade. Allein um die Gnade ging es der Reformation: Sola Gratia. Die Menschen müssen nichts leisten. Sie sind in Gottes Augen gerecht, d.h. vollkommen, ohne sich die Vollkommenheit selbst erarbeitet zu haben. Das Angenommen-Sein ist ein Geschenk Gottes überreicht in Tod und Auferstehung Jesu Christ.

Die Gnade Gottes ist allerdings mehr als ein formaler Freispruch. Sie ist mehr als eine platte Glaubensformel. Gottes Gnade ist eine gute Kraft. Sie ist ein Raum der Freiheit, eine wirksame Hoffnung, erlösende Ermutigung, Ausgangspunkt eines neuen Lebens. Gnade ist mehr als eine theologische Antwort auf die Frage nach dem gnädigen Gott. Die Reformation, zumindest die magisteriale Reformation um Luther, Zwingli und Calvin, wurde von Theologen angeführt. Das könnte zu der Überzeugung verleiten, dass es einer theologischen Erkenntnis bedarf, um zur Freiheit des Glaubens durchzudringen. Aber intellektuelle Einsicht und theologische Lehre öffnen nur erlösende Räume der Freiheit, wenn sie vor das Angesicht Gottes führen. Und in die „Freiheit der Tat“ (Bonhoeffer, Stationen). Die Gnade wird erst im Angesicht Gottes lebendig, wenn sie aus der Flucht der Gedanken entkommen lässt, wenn sie aus ängstlichem Zögern herausführt in den Sturm des Geschehens.

Im Angesicht Gottes wird Gnade lebendig. Im Angesicht Gottes empfing Mose das Gesetz (Ex 34). Das Gesetz kommt von Gottes Angesicht und führt zu einem gelingenden Leben in Gott. Das Gesetz soll die Augen der Menschen nicht verdunkeln, sondern bereit machen für den Glanz Gottes. „Ziehst du aus, die Freiheit zu suchen, so lerne vor allem Zucht der Sinne und deiner Seele“ (Bonhoeffer, Stationen). Das Gesetz versklavt nicht, sondern befreit. Es öffnet den Weg zum Leben.

Einige Reformatoren dachten, das Gesetz verenge den Raum der Freiheit; es sei nur dafür gedacht, das Sünderdasein zu verdeutlichen und die Gnade noch größer zu machen. Sie dachten das Gesetz stünde der Gnade entgegen. Tatsächlich aber ist das Gesetz in der Gnade aufgehoben. Gnade allein – sola gratia bedeutet nicht, dass wir uns für die Gnade und gegen das Gesetz entscheiden. Sola Gratia heißt: auch das Gesetz ist Gnade. Wie könnte es anders sein, wo das Gesetz doch so schön ist!

Seht euch die Lilien auf dem Feld an, sagt Jesus (Mt 6,28). Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf dem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben (Mt 5,14). Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45). Wurden diese Sätze wirklich gesprochen, um die Menschen zur Erkenntnis ihrer Sünde und Ohnmacht zu führen, wie ein bekannter Reformator erklärte?  Ich denke nicht. Ich denke, diese Worte wurden gesagt, um unsere Augen für den Glanz Gottes zu öffnen, der oft genug in der Schönheit der Schöpfung sichtbar wird.

Wenn das Salz nicht mehr salzt, ist es zu nichts mehr nutze – aber Menschen können ihr Licht leuchten lassen, so dass andere Menschen es sehen (Mt 5,13). Menschen vermögen nicht ein einziges Haar schwarz oder weiß zu machen, trotzdem können sie mit einem „Ja“ ein „Ja“ meinen und mit einem „Nein“ ein „Nein“ (Mt 5,36). Menschen sind böse, aber sie haben doch die Fähigkeit zur Empathie (Mt 7,10ff.). Deshalb geben Eltern ihren Kindern keine Steine, wenn sie um Brot gebeten werden, und keine Schlange, wenn sie nach einem Fisch gefragt wurden. Und deshalb ist es auch nicht zuviel verlangt, deine Mitmenschen so zu behandeln, wie du selbst gerne behandelt werden möchtest (Mt 7,12)! Du solltest dieser goldenen Regel wegen der anderen Menschen folgen, aber vor allem um deiner selbst willen. Weil die Gnade Gottes dir einen Raum der Freiheit geöffnet hat, um die Schönheit des Gesetzes zu genießen.

Dr. Joel Driedger ist Pastor der Berliner Mennoniten-Gemeinde sowie Konfliktberater und Mediator.