Antje Heider-Rottwilm: Von Furchtlosigkeit zu Gewaltfreiheit

Es gibt einen Gedankengang, der eng mit der Reformation verbunden ist. Das ist das Thema „Fürchte Dich nicht! Oder: Fürchtet euch nicht!“ Dieser Zuspruch kommt in der Bibel sehr häufig, man sagt 95-mal vor. Wir finden ihn im am Beginn der Bibel genauso wie im letzten Buch der Heiligen Schrift, der Offenbarung. Das weist darauf hin, dass die Menschen in allen Generationen voller Furcht waren - und Gott erlebten als den, der sie ermutigte, sich ihrer Furcht zu stellen - und sie auszusprechen. Und sie erlebten Gott als den oder die, die half, die Furcht zu überwinden.

Sozusagen an der Nahtstelle zwischen der hebräischen Bibel und dem Evangelium von Jesus Christus geschieht dies eindrücklich. Zum einen im Luka-Evangelium. Da spricht der Engel zu der jungen Frau Maria angesichts der Mitteilung von ihrer unerklärlichen und unerwarteten und sicher belastenden Schwangerschaft:  Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Und später, das Kind im Stall von Bethlehem geboren, die Hirten geblendet und erschrocken angesichts des himmlischen Glanzes. Da spricht der Engel zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich bringe euch gute Nachricht, die für das ganze Volk sein wird. Evangelium für das ganze Volk!

Jesus stillt den Sturm und sagt dann zu den Jüngern: Was seid ihr so furchtsam? Wie habt ihr denn keinen Glauben? Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der? Selbst Wind und Meer sind ihm gehorsam. Jesus glättet die Wogen, schafft festen Grund - aber die Jüngerinnen und Jünger fürchten, sich darauf einzulassen. Warum seid ihr furchtsam? Habt ihr denn keinen Glauben? Glaube kann Berge versetzen und Wogen glätten, Glaube schafft festen Grund. In der gegenwärtigen Kultur der diffusen Ängste und konkreten Furcht ist das eine ungeheure Herausforderung. Martin Luther formulierte in der 14. seiner 95 Thesen: „Ist die Liebe (zu Gott) unvollkommen, so bringt…das notwendig große Furcht”. Und in seinem Kommentar zu dieser These spitzte er zu, dass letztlich die Furcht auf einen Mangel an Gottesglauben zurückzuführen sei, auf ein defectum fidei.

Der Gottesglaube und die Gottesliebe des Reformators Luther führten allerdings nicht dazu, dass er sich auf die Kraft des Glaubens, der Liebe, der Hingabe, der Nachfolge verließ. Noch 1522 hatte er diejenigen, die die Reformation mit Gewalt durchsetzen wollten, gewarnt: ‚Non vi sed verbo‘ (Nicht durch Gewalt, sondern das Wort). 1526 schrieb er in der Schrift „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können“: „Fast könnte ich mich ja rühmen, dass seit der Zeit der Apostel weltliche Schwertgewalt und Obrigkeit nie so klar beschrieben und herrlich gepriesen worden ist als durch mich (...) Nun sieht es zwar nicht so aus, als ob Würgen und Rauben ein Werk der Liebe wäre. Deshalb mag einer in ,Einfalt´ denken, es sei kein christliches Werk und zieme sich nicht für einen Christen, es zu tun. Aber in Wahrheit ist es doch ein Werk der Liebe.” So legitimierte er, dass statt Gewaltfreiheit Gewalt zur dunklen Seite der Reformation und der Mächte, die sie politisch instrumentalisierten, wurde.

Demgegenüber galten die Täufer als radikal. Radikal unter anderem deswegen, weil sie mit einer baldigen Wiederkunft Christi rechneten und ihre Welt darauf ausrichten wollten - mit Gütergemeinschaft, Gewaltlosigkeit und einer hierarchiefreien Kirche und Gesellschaft. Dafür mussten sie bitter leiden.

Fürchtet euch nicht! ‚Absolut furchtlos, maßlos glücklich und immer in Schwierigkeiten‘ (absolutely fearless, immensely happy and always in trouble) so wurden die Quäker beschrieben. Auch Dorothee Sölle, die radikale, unbedingte, prophetische Theologin, definierte sich ausdrücklich über diese Tradition. ‚Absolut furchtlos, maßlos glücklich und immer in Schwierigkeiten‘.

Und ein weiterer Blick auf das Thema Furchtlosigkeit: Könnte es sein, dass das Zurückschrecken vor der Gewaltlosigkeit, das Zurückschrecken davor, sich selbst wie auch die Verletzbaren und Bedrohten ganz Gottes Liebe anzuvertrauen, auch zusammenhängt mit der Furcht vor dem Tode, die mich und uns alle zu beherrschen droht?

Der am Karsamstag gestorbene Johann Christoph Arnold, Mitglied der Bruderhofgemeinschaft in den USA, Friedensstifter, Schriftsteller und Polizei-Seelsorger in New York, Gründer des Programms für Gewaltprävention ‚Breaking the Cycle‘, hat ein Buch mit dem Titel ‚Hab keine Angst‘ geschrieben. In Aufnahme von Gedanken Dietrich Bonhoeffers führt er aus:
„…Die beste (und in der Tat die einzige) Weise, die Angst vor dem Tod zu überwinden, ist die, das Leben so zu leben, dass seine Bedeutung nicht durch den Tod zerstört werden kann. Das mag hochtrabend klingen, aber es ist in Wirklichkeit sehr einfach. Es bedeutet, dass wir gegen den Impuls ankämpfen müssen, ein egoistisches Leben zu führen, ein Leben, das sich in erster Linie um unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche dreht. Es bedeutet, unseren Geiz zu bekämpfen und uns in Großzügigkeit zu üben. Es bedeutet, demütig zu sein und nicht Macht und Einfluss zu suchen. Und schließlich heißt es auch, immer wieder bereit zu sein, alles aufzugeben - auch unser Selbstbild, unser eigenes Leben, und unsere eigenen (und eigennützigen) Meinungen und Pläne. … Wichtig ist allein, dass wir unser Leben für die Liebe leben, denn nur dann werden wir in der Lage sein, dem Tod mit Zuversicht ins Auge zu sehen, wenn er kommt. Ich sage das, denn ich bin mir sicher, dass wir nicht gefragt werden, wie viel wir im Leben erreicht haben, wenn wir unseren letzten Atemzug getan haben und vor Gott treten. Wir werden gefragt werden, ob wir genug geliebt haben. Johannes vom Kreuz hat es so ausgedrückt: ,Am Lebensabend werden wir auf der Grundlage der Liebe gerichtet.´“

Was heißt „500 Jahre Reformation“ angesichts der individuellen, gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen für uns heute? Wenn Reformation die Erkenntnis bedeutete, dass Gott Gnade, Liebe, Barmherzigkeit ist und uns in die Freiheit ruft, dann gilt es, das durchzubuchstabieren und durchzuhalten bis in alle Bereiche menschlichen und gesellschaftlichen Lebens:

Das bedeutet, Gottes Liebe, die sich in Jesus Christus für uns hingibt und damit verletzlich wird, anzunehmen.

  • Das bedeutet, meine eigene Geborgenheit in Gottes Liebe und meine Verletzlichkeit als Mensch zu akzeptieren.
  • Das bedeutet, falschen Mächten und Gewalten, falschen Sicherheiten und damit Gewalt als Mittel zu Schutz und Sicherheit abzusagen.
  • Das bedeutet Gewaltfreiheit in allen Bereichen zu leben - individuell, gesellschaftlich, global und sich politisch dafür einzusetzen.
  • Das bedeutet, die befreiende Kraft des Evangeliums unter neuen, sozialen, kulturellen und politischen Umständen neu zur Geltung zu bringen. Es geht darum, Befreiung des Glaubens, Befreiung des Menschen, Befreiung der Kirche, Befreiung der Welt und Befreiung der Schöpfung zusammenzudenken und weiter kreativ zu entfalten.

    Es ist an der Zeit, dass die Kirchen den reformatorischen Glaubensschritt tun - hin zu in Gottes Liebe gegründeter Furchtlosigkeit - und damit hin zur Gewaltlosigkeit.

Antje Heider-Rottwilm

Vorsitzende Church and Peace e.V