Horst Scheffler: Reformation im Wandel der Zeiten

Reformation als Zeitenwende
Martin Luthers Kirchenkritik eröffnete nicht nur eine religiös-kirchliche Revolution, eben die Reformation. Er erschütterte das ganze Gefüge politischer Macht in Europa. Luther kritisierte den Papst wegen der Buß- und Ablasspraxis der katholischen Kirche. Mit dieser religiös und kirchlich begründeten Kritik schwächte er aber auch die damalige politische Macht des Papstes. Was Luther selbst weder wusste noch wollte, seine Papstkritik leitete das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ein.
Seit dem Jahr 962 krönte der Papst die deutschen Kaiser. Wie politisch mächtig der Papst war, erlebte Kaiser Heinrich IV. im Jahr 1072, als er, um einen Streit mit dem Papst zu beenden, zum Bußgang nach Canossa gezwungen wurde. Noch im Jahr 1494 entschied der Papst im Konflikt zwischen Spanien und Portugal über die Aufteilung Südamerikas. Spanien erhielt den östlichen, Portugal den westlichen Teil des Subkontinents zugesprochen. Deshalb wird heute in Brasilien portugiesisch, in den anderen Ländern hauptsächlich spanisch gesprochen. Im Jahr 1530 konnte der Papst ein letztes Mal mit Karl V. einen Kaiser krönen, dem Luther bereits 1521 auf dem Reichstag zu Worms gegenüberstand.
Die Reformationszeit war eine Zeitenwende. Mit ihr endete das Mittelalter. Es begann die Neuzeit mit den Epochen der Nationalstaaten, aber auch der Nationalismen, und der Nationalkriege, die in Weltkriege eskalierten, und der Epoche des atomaren Zeitalters mit dem Ost-Westkonflikt.

Reformation, Aufklärung und Säkularisierung
Die Reformation bereitete auch den Boden für die Aufklärung und die Säkularisierung. Die Kirche verlor außer der politischen Macht auch angesellschaftlichen Einfluss. Nun bestimmten aufgeklärte Bildung, Natur- und Geisteswissenschaften und Technik das gesellschaftliche Leben.
Mit dem Verlust der politischen und gesellschaftlichen Macht der Kirche schien auch die Religion allmählich zu verschwinden. Aufgeklärte  Wissenschaften meinten die Welt ohne Bezug auf Gott allein aus der Vernunft erklären zu können. Religion und Glaube galten bestenfalls noch als Privatsache. An die Stelle der Religion traten Weltanschauungen und Ideologien, die entweder über die Ideen des Marktes und Kommerzes oder über Atheismus und Agnostik Sinn und Erfolg versprachen. Selbst Theologen meinten, es hätte eine religionslose Zeit begonnen.

Das Ende der Reformationszeit?
Dieser kurze Geschichtsabriss skizziert eine Epoche, an deren Anfang der 31. Oktober 1517 steht.
Heute mehren sich die Anzeichen, dass nun auch diese Epoche zu Ende geht. Zwar geschieht dies nicht auf einen Schlag, sondern auch wieder Schritt auf Schritt. Einen ersten Schritt haben wir miterlebt mit dem Ende des Ost- Westkonflikts und dem Zerfallen bisheriger mächtiger Staaten, wobei die Sowjetunion das prominenteste Beispiel ist. Andere Staaten verlieren Anteile ihrer nationalstaatlichen Souveränität. Politische Kompetenzen übernehmen internationale Bündnisse. In Europa entscheidet mehr und mehr Brüssel anstelle bisheriger nationalstaatlicher Regierungen. Im Gegenzug dazu erwacht bei vielen Menschen die Sehnsucht nach Sicherheit in der beheimateten Region.

Die Rückkehr der Religion
Einen weiteren Schritt hin in eine neue Zeit erleben wir heute mit der Rückkehr der Religion in die globalisierte Welt. In Südamerika und in Afrika geschieht schon seit längerem ein religiöser Aufbruch der christlichen Religion. In Europa drängt die Religion in der Gestalt des Islam in einen  Raum, in dem die Religion auszusterben schien.
Selbstverständlich wussten Religionspsychologen und Religionssoziologen, dass die Religion eigentlich nicht aussterben kann. Systeme, Sinne zu deuten, Gefühle zu regeln und den Willen zu steuern, brauchen Menschen immer. Und solche Systeme sind nun einmal religiöse Systeme. Ein Aphorismus besagt, eine Welt ohne Religion wäre gleich einem Meer ohne Wasser.
In welcher Gestalt die Religion und in welchem Glauben sie gelebt wird, welchen Inhalt religiöse Systeme übermitteln, also welche Weltreligionen und welche Religionsgemeinschaften lebendige Religiosität ermöglichen, ob sie konstruktiv oder destruktiv das Leben der Menschen bestimmen, darüber entscheiden die Menschen, die sich engagieren in der Religionen und Religionsgemeinschaften, in den Kirchen, Synagogen, Moscheen und Klöstern und Gemeinden.
Horst Scheffler
Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF)

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