Vincenzo Petracca: Thesenanschlag im Ghetto

„In the Ghetto“ von Elvis Presley ist eines der bekanntesten Lieder des „King of Rock“. Der Song erzählt den kurzen Lebensweg eines Kindes, das an einem kalten, grauen Morgen im Ghetto von Chicago zur Welt kommt. Zwangsläufig gerät es auf die schiefe Bahn. Das junge Leben findet ein gewaltsames Ende, an einem genauso kalten, grauen Morgen wie der Morgen der Geburt. Kunstvoll beginnt das Lied mit einer weinenden Mutter, die ein weiteres Kind nicht ernähren kann, und am Ende des Liedes beginnt der Kreislauf von neuem: Erneut wird ein Kind im Ghetto geboren und eine Mutter weint. Offen appelliert das Lied an die Hörenden, nicht wegzusehen und zu helfen, um den Teufelskreis der Armut und Chancenlosigkeit zu durchbrechen.

Der Song wurde 1968 geschrieben. Beim Ghetto von Chicago handelt es sich um ein Schwarzenghetto. Zwei Jahre zuvor war Martin Luther King demonstrativ dorthin gezogen. "Man kann den Armen nur nahe sein, wenn man bei ihnen lebt", erklärte er den Reportern, die ihm die wacklige Treppe zu der nach Urin stinkenden Unterkunft nachkletterten. Sein Ziel war, die im Süden der USA bewährte gewaltfreie Aktion in die Slums der Großstädte des Nordens zu tragen. Dort waren die Probleme der Schwarzen nicht eine kleinliche Rassentrennung im Bus, sondern die wirtschaftliche Benachteiligung im Ghetto und die Hoffnungslosigkeit einer ganzen Generation Jugendlicher. Im Gottesdienst im Ghetto rief er: "In einem Slum zu leben ist Raub. Ihr seid eurer Würde beraubt. Es ist ein Unrecht, mit Ratten zu leben."

In diesem Monat gibt es einen zusätzlichen Feiertag: Am 31. Oktober erinnert sich die gesamte Bundesrepublik an den Thesenanschlag Martin Luthers am 31. Oktober 1517. Ob Luther freilich die 95 Thesen vor 500 Jahren tatsächlich an die Kirchentür nagelte oder nur veröffentlichte, ist umstritten. Wie auch immer: Martin Luther King griff auf das Protestmittel seines berühmeten Namenspatrons zurück. Als Protestmärsche durch weiße Wohnviertel Chicagos nur hasserfüllte Reaktionen hervorriefen und der Bürgermeister nicht einlenken wollte, ahmte er den Thesenanschlag zu Wittenberg nach. Im Juli 1966 zog er zum Rathaus von Chicago. Unter dem Jubel von 30.000 farbigen Sympathisanten heftete er 48 Thesen an die Metalltür des Rathauses. Hatte Luther in seinen Thesen den geschäftsmäßigen Ablasshandel auf Kosten der Armen angeprangert, so prangerte King in Chicago die Geschäftemacherei mit Unterprivilegierten im Schwarzenghetto an. King wählte bewusst nur halb so viele Thesen wie Luther, aber dafür waren sie sehr konkret. Er forderte bessere Wohnungen, Arbeits- und Ausbildungsplätze für Schwarze und Latinos, einen Mindestlohn und Schutz vor Polizeigewalt.

Diese Forderungen sind auch 50 Jahre danach weitgehend noch nicht eingelöst. Polizeigewalt gegen Farbige erschüttert weiterhin die USA. Noch heute leben im Ghetto von Chicago rund 130.000 Einwohner unterhalb der Armutsgrenze.

Martin Luther King aktualisierte den lutherischen Thesenanschlag auf die damalige Situation der rechtlichen und sozialen Rassentrennung in den USA. Was Kings "Reformation" in Chicago betrifft, so musste er sich mit sehr bescheidenen Ergebnissen begnügen, obwohl er in der Stadt ein ganzes Jahr lang Massendemonstrationen und Streiks organisierte. Er sagte selbst: "Es ist der erste Schritt einer Reise von 1000 Meilen".

Elvis´ Song ist im Pophimmel, Martin Luther King zum amerikanischen Nationalheiligen verklärt worden, aber die Reise zu einer gerechten und friedlichen Welt ist keineswegs zu Ende. Welche 48 Thesen sollte man heute in einer sozial gespaltenen und militärisch hochgerüsteten Welt anschlagen?

Dr. Vincenzo Petracca ist Pfarrer der Heidelberger Altstadtgemeinde Heiliggeist-Providenz und Vorstandsmitglied der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) sowie  Vorstandsmitglied von  „gewaltfrei handeln“.