Statt Pershing.

Pfr. Dr. Holger Pyka aus Wuppertal hat uns beim Gottesdienst „50 Jahre Dienst für den Frieden“ zum Abschluss des Kirchentages in Dortmund mit einem Poetry Slam erfreut und nachdenklich gemacht.

Statt Pershing.

Der Schlüssel in der Wohnungstür.

Sein Schnaufen im Flur.

Knarzende Dielen unter schweren Schritten.

Die drei Stockwerke sind irgendwie... höher als vor zwanzig-dreißig Jahren.

Oder es sind die Beine, die ein klein bisschen schwerer geworden sind mit der Zeit.

Es geht alles abwärts, irgendwie.

Also nicht mit der Welt, das weigert er sich bis heute zu glauben.

Aber so vom Körper her.

Die Schultern ein kleines bisschen runder,

die Haare dünner, und grau sowieso, der Pferdeschwanz ist natürlich geblieben.

Die ewig schlaksige Figur auch... bis auf diese kleine, unleugbare Kugel in der Körpermitte,

die auch jetzt aus der ausgeblichenen Jeansjacke hervorguckt.

Das verwaschene Peace-Zeichen spannt drüber.

Den Bauch einziehen, das würde er nie... obwohl.

Prüfend betrachtet er sich im mannshohen Garderobenspiegel.

Sieht die grauen Bartstoppel,

den Ring im Ohr...

... und die kleine Kugel über dem Gürtel!

Er zieht die Luft ein,

hält sie an...

... im-mer... noch...

... hält... sie...

.... Pffft!

Kopfschüttelnd atmet er aus.

Nee.

Wer Frieden will, muss bei sich selbst anfangen.

Freiheit für Nelson Mandela. Und für meine Wampe.

Sein Spiegelbild ist gesäumt von Aufkleber, die dem Frosch-Essig-Reiniger seit Jahrzehnten standhalten:

Eine weiße Taube auf Himmelblau.

Schwarz auf Gelb-Rot: Atomkraft, nein danke!

Frieden schaffen ohne Waffen.

Bombing for peace is like fucking for virginity.

Noch ein paar Mal zieht er probeweise den Bauch ein,

dann packt er die Jutetaschen und ruft unnötigerweise:

„Ich bin wieder da!“ Richtung Küche.

 

„Wenn er bloß etwas mehr aus sich machen würde“, denkt sie, während sie ihm dabei zusieht, wie er langsam und methodisch die Einkäufe wegräumt. Das Getreide neben die Schrotmühle. Die Milchflaschen in den Kühlschrank. Das Obst aus der Papiertüte in die Rattanschale aus Tansania.

Er ist langsamer, schwerfälliger.

Aber sie ahnt darunter, wie ein Echo, etwas unscharf und nachhallend, aber eben auch unüberspürbar, seine besondere Anziehungskraft, diese Schönheit, die nicht viele wahrnehmen.

Das war schon früher so, aber sie findet: Die Lebenspatina, die er angesetzt hat, macht ihn eigentlich noch interessanter. Die Falten, die die immer noch gebirgsseeklarblauen Augen umspielen. Wenn er bloß ein bisschen mehr...

 

Sie runzelt die Stirn, als er eine Ananas auspackt.

Sagt nichts, muss nichts sagen.

Sie weiß, dass er weiß, dass sie sagen würde, die habe man früher „Apartheidsfrüchte“ genannt, und er wird sagen: „Ach“, und sie würde sagen: „Je.“

So ist das nach all den Jahren.

 

„Wie wäre es mit Grünkernbratlingen?“ fragt er und fängt schonmal mit dem Kochen an.

Sie nickt und räumt langsam ihre Unterlagen auf dem Küchentisch zusammen.

Es sind viele.

Von wegen Ruhestand und so.

Eine junge Syrerin, die das Bundesamt zu ihrem gewalttätigen Ehemann in Damaskus abschieben will, hat sie fürs Erste im Frauenhaus untergebracht.

Dann hat sie mit einem jungen Somalier seinen Asylantrag ausgefüllt – und ahnt, was die erste Antwort sein wird. Der Wind bläst kalt in Deutschland.

 

Er formt mit nassen Händen die Masse aus Getreide, Eiern, Zucchini und Kräutern zu genau gleich großen Bratlingen. 2 EL Parmesan und 1 EL Senf sind das Geheimnis.

Und genau gleich groß müssen sie sein, da achtet sie immer sehr drauf.

Sie weiß, dass er das weiß, und findet das schön.

 

Während die Bratlinge in der Pfanne brutzeln, erzählt er ihr von seinem Tag.

Von dem Streit, den er zwischen dem türkischen Gemüsehändler und seinem kurdischen Kunden geschlichtet hat.

Von den Jugendlichen, denen er von Gandhi erzählt hat.

Von den Bundeswehrflyern in der Bücherei, die er im Müll hat verschwinden lassen.

 

Beim Essen verzieht sie kurz das Gesicht.

Warum da immer Senf rein muss, wird sie nie verstehen.

 

Nach dem Essen, er hat gekocht, sie spült, darauf achtet sie,

sitzt er am Küchentisch über einem Vortrag über die Pershing-II-Raketen, morgen Abend, im Jugendzentrum.

Die jungen Leute haben ja keine Ahnung, wie das damals war.

Raketeländle. Atomkrieg auf der schwäbischen Alp.

Wie greifbar das Gefühl war, am Abgrund zu tanzen.

Fast wie jetzt.

 

Als er nach unbestimmter Zeit wieder aufblickt,

sind die Wolken lila.

Und sie lehnt im Türrahmen.

Trägt den orangenen Sari, der ihr noch genauso passt wie vor dreißig Jahren.

Er ahnt, was sie drunter trägt, beziehungsweise was nicht, und grinst.

Um den Hals trägt sie die Menschenkette, die er ihr zur Hochzeit geschenkt hat.

108 Karatkilometer.

 

Sie stellt sich hinter ihn, massier die angespannten Schultern.

Flüstert ihm leise ins Ohr:
„Vielleicht möchtest Du statt Pershing heute noch was anderes machen...?“
Er legt den Stift zur Seite, steht auf und

nimmt sie in den Arm.

Sie schmeckt nach Rotwein und Gauloises,

nach Grünkern mit Senf,

nach Zuhause und nach salziger Meeresluft...

 

Wenig später haut die alte Dame aus dem zweiten Stock energisch mit dem Besenstiel gegen die Decke, als das Lachen und Ächzen, das Geschiebe und Gequietsche von oben zu laut werden.

 

Man weiß halt nie so wirklich,

was passiert,

wenn Friede und Gerechtigkeit sich küssen.